Uwe Topper, Berlin
Eine seltsame Liebesbeziehung: Orient und Abendland
Streitende Nachbarn
Seit über einem Jahrtausend sind sie Nachbarn an mehreren Haustüren zugleich. In Andalusien, auf Sizilien, an der Levante und am Bosporus standen sie sich mit wechselndem Geschick gegenüber, mal friedlich im Austausch ihrer Güter und Gedanken, öfter feindlich unter Androhung und Ausübung von Gewalt. Das Ergebnis faßte Goethe zusammen: "Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen."
Drei Phasen der Auseinandersetzung des christlichen Europa mit dem Islam sind markierenswert: Die erste während der Kreuzzüge, - vorher fand keine gegenseitige Kenntnisnahme statt! - die zweite in der Renaissance und die dritte etwas zählebig und einseitig von den Romantikern wie Rückert bis heute. Die Aufnahme islamischer Ideen durch die Kreuzzüge war für Europa wesensbestimmend und in mancher Hinsicht katastrophal (siehe Sigrid Hunkes zahlreiche Literatur zum Thema). Äußerlich gesehen mögen die Einführung des Schleiers und die übrigen Neuerungen in der Tracht auffallen, die durch die Vorteile der Schaffung von sanitären Anlagen, Kranken- und Waisenhäusern, wohl auch der Medizin, Astronomie und Mathematik, aufgewogen wurden. Innerlich bleibt das ungelöste Problem der Sexualität, das auf dem Weg über die wesensfremden Liebesgedichte der Troubadoure eingeführt wurde und durch die Einbürgerung von Eifersucht und Männlichkeitswahn bis heute weiterwirkt, ein islamisches Erbe, mit dem europäische Frauen immer wieder erneut kämpfen müssen.
Die zweite Auseinandersetzung geschah in einer von Offenheit und gegenseitiger Anerkennung getragenen Atmosphäre, wie man sie sich heute nur wünschen kann, in der Renaissance, vor allem im damals so mächtigen Spanien-Portugal-Habsburg, das sich ja die islamische Welteroberungtaktik mit Bravour angeeignet hatte. Da gibt es (ab 1490 etwa) Bücher gegen die Sarazenen, Dialoge und Briefe, die von intellektuellen Einsichten nur so sprühen, gelehrte Dispute, in denen Lateiner (römisch katholische Christen), Griechen (orthodoxe Christen), Nestorianer (altgläubige Johanneschristen), Jakobiten (orientalische Monophysiten) und Sarazenen (Moslems) miteinander die Grenzen ihrer Religionen ausloten. Die Texte basieren zum Teil auf hebräischen oder arabischen Vorlagen und sind wegen ihrer weiten Verbreitung bestimmend gewesen für das Islambild der damaligen Zeit. Zumindest wird uns aus der Lektüre deutlich, wie sehr doch der Europäer zu jener Zeit noch zum Moslem aufblickte und sein Ex Oriente Lux herunterbetete. Insofern war auch damals zum zweiten Male noch ein religiöser Impuls für die christliche Kirche schicksalhaft, indem nach koranischem Vorbild durch Luther das Element der "Schriftgläubigkeit" plötzlich zum Prinzip erhoben wurde, das typisch babylonisch anmutet und wie ein bizarres Glaubensbekenntnis der heutigen Fundamentalisten auf uns wirkt.
Und die dritte Phase, die uns jetzt gefangen hält und dieses Spiegel special beschäftigt: eine Auseinandersetzung unter wesensverwandten Monotheisten, die unehrlich und auf ungleicher Stufe geführt wird. Das war nicht immer so. Nach den Dichtern wie Rückert und Goethe und vielen anderen, die den Geist des Islam in ihre Seele aufnahmen - wenn auch den eines sehr eigenen Islam, wie noch ausgeführt wird - haben sich evangelische und jüdische Theologen, auch Jesuiten, ernsthaft mit dem islamischen Schrifttum auseinandergesetzt und jene selbst bei heutigen Moslems hochgeschätzte Literatur geschaffen, die diese Religion erst wissenschaftsfähig gemacht hat. Da es sich bei den europäischen Forschern grundsätzlich um gläubige Menschen handelte, war ein gewisses Einverständnis als Voraussetzung gegeben und eine wohlwollende Beurteilung der gegnerischen Religion von vorneherein gewährleistet. Das hat sich bis zu Albert Schweitzer und Günter Lüling beibehalten.
Sufis
Was hervorzuheben ist an dieser ganz seltsamen Liebesbeziehung, die in künstlerisch-literarischen Kreisen Europas immer wieder für den Islam aufkommt, ist ihre völlig irrationale Art, die dennoch auf breites Verständnis stößt. Sie ergreift keineswegs die einfachen Menschen - etwa in der Weise, wie sie von den Sekten zwischen Jehova und Krischna eingefangen werden - sondern die der Intelligentsia, wenngleich diese meist nicht semitophil oder sprachlich vorgebildet sind. An Sufiorden fehlt es zwischen Münster und Berlin gewiß nicht. Da gibt es Ordenshäuser, die sich hinsichtlich Anhängerzahl und Aktivitäten durchaus messen können mit den Versammlungshäusern der Sufis des islamischen Orients. Die Bruderschaften der Bektaschi und Nakschbandi, Derqauwi und Burhaniya und Mevlewi geben sich in deutschen Städten Feste und Begegnungen, die an Inbrunst und Frömmigkeit nichts zu wünschen übrig lassen. Natürlich wissen die deutschen Anhänger meist nicht, was sie da an arabischen Formeln herunterbeten, haben auch kaum Verständnis für die undemokratische und frauenfeindliche Einstellung ihrer Orden in den Entstehungsländern, glauben aber, daß ihre Art der Anbetung durchaus islamischen Vorstellungen entspreche.
Was natürlich einen Fremden wundern mag. Aber da kommt wohl ein Argument zur Wirkung, das bei vielen zwischenstaatlichen Begegnungen rollenführend ist: Die Gegenseite des Gegners ist unsere Seite. Die sufische Komponente des Islam, die gerade in Europa seit Meister Eckehart und Therese von Avila schönste Blüten treibt, verkörpert ja im islamischen Herrschaftsbereich die Konterrevolution. Die Sufis sind die Ketzer, die getötet, verbrannt, gesteinigt und gekreuzigt wurden. Ihre Auffassung von Religion war das Gegenteil dessen, was als rechtgläubig angesehen wurde. Darum haben unsere Mystiker sie verherrlicht und darum strömen ihnen intellektuelle junge Deutsche zu: weil jene Sufis den Kampf gegen den Islam aufgenommen hatten, weil sie die Freiheit des Denkens propagierten.
Das wirft zwar kein besseres Licht auf unsere Beziehungen zum Islam, stellt aber klar, wie scharf sich der europäische Geist immer wieder gegen jede Art von Bevormundung, sei sie religiös oder weltanschaulich begründet, wehrt.
Sufismus - die Gegenströmung zur Schari'a, der rechtgeleiteten Gesetzesfrömmigkeit - ist das Aufbegehren des einfachen Menschen gegen die intellektualiserte Religion, ist das Überleben antiker Glaubensinhalte im modernen Monotheismus, ist die Weitergabe des mystischen Wissens, der Weisheit (Sophia, daher "Sufi") des griechisierten Orients, vor allem der Gnostiker. Die Sufis benützen Techniken zur Krankenheilung, die die Seele einbeziehen (Therapeuten), statt sich in analytischer Weise mittels Pharamaka und Skalpell allein um den Körper zu kümmern, wie es islamische Mediziner vorbildhaft für ganz Europa entwickelt haben. Traumdeutung und Tanz, Orakelbefragung und Einweihungsrituale sind die vielfach gepflegten Formen der sufischen Verkündigung. Die Verehrung von Bäumen, Felsen, Quellen und Tieren, vor allem aber der von der Geisteskraft eines verstorbenen Sufis aufgeladenen Orte, namentlich ihrer Gräber, sind die prägnanten Merkmale dieses verinnerlichten Glaubens. Am stärksten manifestiert sich die Hingabe bei den zahlreichen lokalen Wallfahrten, die den Jahresrhythmus der Moslems regeln. Die jährliche Erneuerung der Segenskraft (Baraka) an den davon aufgeladenen Kraftorten in der Gemeinschaft der Anbeter gilt als die Erfüllung aller Wünsche. Wir sehen schon, wie nahe diese Lebenseinstellung unseren Romantikern lag und wie verwandt sie heute wiederum unseren New-Age-Intellektuellen vorkommen muß.
In gewisser Hinsicht ist der Sufismus eine allen Religionen gemeinsame Bewegung, eine Art Synkretismus, das Rückgrat der echten Volksfrömmigkeit, das Dauerhafte am menschlichen Glauben. Aber er ist und bleibt die Gegenströmung der Gesetzesreligion. Gräberkult verstößt strengstens gegen den Buchstaben des Islam - eine Ausnahme darf nur den Gräbern der Propheten Mohammed und Abraham zukommen. Schicksalsbefragung durch Geomantik, Tarot oder Ekstasetechnik ist unstatthaft, denn obgleich das Schicksal jedes Einzelnen seit Erschaffung der Welt festliegt, ist doch nur Gott das Wissen davon gegeben. Und die Anbetung von Bäumen, Steinen und Quellen - das versteht sich von selbst - lebte ja gerade in dem Heidentum, das Mohammed so vehement bekämpfte.
Mission
Die starke Ausbreitung der sufischen Variante des Islam täuscht über ihre zahlenmäßige Bedeutung im islamischen Europa, denn es gibt durchaus orthodoxe Missionsbewegungen, die schon seit zwei Generationen um Anhänger unter den Europäern werben. Am stärksten hat sich die Ahmadiyya-Bewegung hervorgetan, die zahlreiche große Moscheen unterhält und viele tausend Mitglieder zählt. In ihren Ausgangspunkten (Qadian in Indien und Lahore in Pakistan) gilt die Bewegung als ketzerisch und wird zeitweise unterdrückt, in England und Mitteleuropa wirkt sie wie der Inbegriff eines gesetzestreuen Islam. Vor allem ihre Ausgabe der Koranübersetzung durch Maulana Muhammed Ali steht in vielen Bibliotheken und kann als Musterbeispiel für eine gelungene Übertragung gelten. Es bleibt eben doch ein spürbarer Unterschied, ob ein wohlmeinender Sprachkenner - etwa Rudi Parett - den Koran eindeutscht oder ein gläubiger Moslem. Daran kranken fast alle unsere modernen Untersuchungen und Übersetzungen islamischen Schrifttums: es fehlt ihnen die Glut, die das Original auszeichnet. Denn Glut, aus der sich leicht ein Feuer anfachen läßt, steckt in den Texten allemal. Das wird uns nirgends stärker bewußt als im Iran und den von seiner neuen Revolution inspirierten Ländern des Orients. Eine Kenntnisnahme des sunnitischen Islam, wie sie die erwähnte Ahmadyya-Mission verbreitet, kann uns das Phänomen nicht erklären. Nur eine Betrachtung der Schia bringt uns nahe, worin diese fanatischen Religiosität besteht.
Iran
Zwar nimmt die Schia im Islam nur ein Zehntel der Geamtbevölkerung unter ihre Fittiche, aber ihre Wirkung - zumal auf uns Mitteleuropäer - ist doch so überragend, daß eine moderne Betrachtung des Islam oft in einer Analayse schiitischer Glaubensformen oder iranischer Politik gipfelt. Tatsächlich ist ja die gesamte Legendenbildung - "Hadith" - und die Endfassung des Koran ohne iranische Federführung nicht denkbar, genauso wie die militärischen Erfolge des jungen Islam, also die in Windeseile erfolgte Ausbreitung über ein enorm großes Gebiet, hauptsächlich iranischem Genie zu verdanken waren.
Überraschend ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, daß die Schia in ihrer heutigen Form ganz plötzlich 1502 in Persien ins Leben gerufen wurde von einem türkischen Herrscher, der sich von seinen Volksverwandten abgrenzen wollte. Dort wo früher neben der Sunna nestorianisches Christentum und zoroastrisches Heidentum vorherrschend waren, entwickelte sich eine auf ebionitischen Gedanken fußende höchst eigentümliche islamische Form, die bald alle anderen Glaubensweisen in sich aufsog und sich mit unvorstellbarem Charisma durchsetzte. Das brachte Alessandro Bausani in seinem Aufsatz "Muhammed oder Darius?" erstmals mit Klarheit zur Sprache und überraschte damit einige Orientalisten. Der Essay erschien in Antaios (Bd. X, Nr. 5, Jan. 1969, S. 413-33), herausgegeben von Mircea Eliade und Ernst Jünger, garniert mit persischen Gedichten, die Annemarie Schimmel übersetzt hat, wobei Corbin und Rypka u.a. zitiert werden - mein Gott, wie viele erlauchte Namen auf so wenig Seiten! Der Grundgedanke von Bausani, nämlich Muhammed und Darius als Antagonisten gegenüberzustellen, die auf ihrem ureigensten Territorium wesensverwandt sind, gipfelt in dem Satz, "könnte man sagen, Iran sei zum Islam prädestiniert gewesen, ebenso wie der Islam in Iran seine Bestimmung erreicht habe." So stellt die Schiitisierung des Iran keinen Bruch sondern die logische Folge einer lange vorbereiteten Entwicklung dar, die auf dem Gegensatz aufbaut, der seit dem Beginn der Geschichte zwischen Schrift und mündlicher Überlieferung, zwischen dem semitischen Mesopotamien und dem indo-europäischen (oder türkischen) Mittelasien bestand. Dargestellt wurde die Entstehung der Schia (="Partei") als Gegensatz zwischen demokratischer (sunnitischer) und dynastischer (schiitischer) Kalifenfolge, einem Streit, der besonders nach dem Tode Alis zum Blutbad von Kerbala (680) führte, in dem die Abstammungslinie des Propheten ausgeschaltet wurde. Dieses Ereignis wird noch heute mit unvorstellbar fanatischen Selbstgeißelungen alljährlich am 10. Tag des Jahres begangen, wobei stets zahlreiche Menschen zu Tode kommen. Wer die blutverschmierten Gestalten der Männer, die sich mit Messerklingen Oberkörper und Kopf zerfleischen, und die mit ihren Kindern angeketteten Frauen am Straßenrand inmitten der jubelnden Menschenmenge einmal gesehen hat, wird diesen Eindruck nicht mehr vergessen.
Mahdi-Erwartung und Charisma der Führerpersonen - so ließe sich die Quintessenz der Schia betiteln: Einerseits ist es das Charisma, das vom Propheten über Ali und die übrigen Imame in schwächer werdender aber nie versiegter Weitergabe auf den heutigen Führern des Iran ruht, und andererseits die Erwartung des kommenden Mahdi, seit 1905 verankert in der persichen Verfassung als die zukünftige Gesetzesmacht, die so unvorstellbare Ströme von Blut fließen lassen und ein Volk, das zu den hochzivilisiertesten der Erde gehört, in Armut und Krieg stürzen.
Unterm Schleier
Erstaunlicherweise haben die islamischen Frauen (im Iran wie anderswo), obgleich sie öffentlich fast unsichtbar sind, einen entscheidenden Anteil an diesem Fanatismus. Ihre Rolle gehört in soziologischer Hinsicht zu den großen Unverständlichkeiten unseres Zeitalters. Unter schweren schwarzen Stoffhüllen verborgen wie eine Mumie (oder wie ein verpupptes Insekt, wie die Algerierin Aischa Lemsine es hoffnungsvoll ausdrückte), wirkt die Muslimin wie ein Relikt aus einer längst vergangenen und heute nicht mehr faßbaren Zeit. Woher sie ihre unbestreitbare Macht herleitet, bleibt unergründlich. Eine Annäherung soll dennoch versucht werden.
Es wäre nämlich außerordentlich interessant zu hören, wie selbstbewußt islamische Frauen Bibliotheken, Schulen oder Museen leiten, Bücher schreiben und wohltätige Stiftungen ins Leben rufen, oder wie die einfache Bäuerin ganz auf sich gestellt einen großen Bauernhof in Abwesenheit ihre Mannes führt, wie sie beim Fischfang mithilft oder ihre selbsthergestellte Töpferware auf dem Markt verkauft. Oder wie mächtig sich die Arbeit der Hebammen und Heiratsmaklerinnen oder der heiligen Frauen im sozialen Leben auswirkt. Aber darüber wird selten geschrieben, nicht nur, weil die meisten Informanten über jene "fernen" Länder Männer sind, sondern weil auch die europäischen Frauen, die dort reisen, mehr die Männerwelt wahrnehmen als die der dortigen Frauen.
Aber das geht selbst den Einheimischen so. Nicht schmeichelhaft ist, was Qasim Amin, der oppositionelle Moslem in Ägypten gegen Ende des vorigen Jahrhundertrs in seinem Aufruf zur Befreiung der islamischen Frau schrieb:
"Die Frau wird verachtet, indem man sie in ihre Wohnung einschließt und sich rühmt, daß sie nur im Sarg wieder hinauskommt, der zum Grab geht. Die Frau wird verachtet, indem man erklärt, daß sie kein Vertrauen und keine Glaubwürdigkeit verdient. Die Frau wird verachtet, indem man sich zwischen sie und das soziale Leben stellt, zwischen sie und jedes Geschehen, das sie angeht. Sie hat kein Recht auf Beratung bei Ereignissen, auf eine Meinung bei Ideen, auf Geschmack in den Künsten, auf einen Beitrag zum Gemeinwohl oder einen Rang in Sachen des Glaubens, auf Vaterlandsliebe oder Nationalbewußtsein." (Übers. U.T.)
Wenn man von dem letztgenannten Begriff absieht, der neuerdings in allen islamischen Ländern betont wird, weil man im Kriegsfall auf die Mittäterschaft der Frauen nicht verzichten will, dann hat sich in den vergangenen hundert Jahren kaum etwas an diesem Zustand geändert. Oder wenn in einigen Ländern (wie etwa in Ägypten in der kolonialen Phase) kurzzeitig eine Erleichterung eingetreten war, dann schlägt das Pendel jetzt wieder zurück. Die Einkerkerung schreitet voran und der Mann ist derjenige, der das am leidvollsten empfindet. Er vermißt den weiblichen Teil seiner Menschlichkeit.
Demgegenüber ist die ungeheuer wichtige Rolle, die die Frau im Seelenleben des Moslems spielt, kaum richtig einzuordnen. Als Mutter ist und bleibt sie das Maß aller Dinge für den Sohn, nach Allah ist ihm seine Mutter das wichtigste Wesen der Welt. Seine Ehefrau bekommt das am stärksten zu spüren, in einer Weise, die uns erblassen läßt. Oft muß die junge Frau mit ihrer Schwiegermutter das Bett teilen, und diese bestimmt, wann das Paar zusammenkommen darf. Sie hat oft ihre Schwiegertochter ausgesucht, und diese gewinnt erst dann etwas Freiraum, wenn sie einen Sohn geboren hat. Da Lesbiertum im Islam völlig unbekannt ist, gibt es auch keine Regelung in dieser Hinsicht. Die Szenen im "türkischen Bad", die Delacroix darstellte, sind harmlos gegen das, was sich dort abspielen kann. Angeblich hatte Harun Raschid ein Oberlicht im Bad seines Palastes einbauen lassen, um die Praktiken der Frauen dort besser überwachen zu können. Wer aber meint, daß Wächter, Türschlösser oder Kleidervorschriften der psychischen Freiheit einen Riegel vorlegen könnten, der hat vom Menschsein nichts begriffen. So sind auch die Auslöser für die Verschleierung der Frau häufig ganz anderer Natur, weder auf Religion noch auf Eifersucht gegründet.
In den vergangenen Jahrzehnten ist eine äußerst starke Zunahme der Verschleierung der islamischen Frauen zu bemerken. Wenn ich hier ganz allgemein das Wort Schleier verwende, so bezeichne ich damit nicht jenes dünne - oft durchsichtige - Tüchlein, das viele Orientalinnen vor dem Mund tragen, sondern jene den ganzen Körper verhüllende Tracht, eine Art ägyptischer Mode, die wie eine Uniform mit wenigen Varianten getragen werden kann. Dabei können im Gegensatz zur iranischen Burka ein großer Teil des Gesichtes sowie beide Hände durchaus sichtbar werden.
In einigen Ländern (Marokko als Musterbeispiel) ist die Verschleierung von Millionen von Frauen erstmals um 1970 eingeführt worden, obgleich die Islamisierung dort meist schon ein Jahrtausend zurückliegt. In diesem Punkt decken sich meine Erfahrungen mit denen von Germaine Tillon (Le Harem et les Cousins, Paris 1966), wobei ich ihre Ansicht über die Gründe dafür nicht teile. Germaine Tillon, die mit dem denkbar größten Überblick über fast alle islamischen Gebiete wohl das beste Urteil fällen konnte, meint, daß die Bewahrung der heiratsfähigen Töchter für die Clique nur dann Erfolg haben könne, wenn die 6-12jährigen Mädchen verschleiert werden, in der "Auswahlzeit" also, während Frauen, wenn sie einmal verheiratet sind, nicht mehr notwendigerweise verschleiert werden müßten.
Meine eigenen Beobachtungen betreffen vor allem die Landbevölkerung - die vornehmen Städterinnen gingen ohnehin schon zu einem relativ großen Prozentsatz verschleiert. Eine Berberin legt erst neuerdings den Schleier an, und zwar nach der Eheschließung und oft gegen den ausdrücklichen Wunsch ihres Mannes. Und sie trägt ihn auch weiterhin, selbst als Witwe. Im Gespräch konnte ich den wahren Beweggrund für dieses seltsame Verhalten herausfinden. Er ist keineswegs religiös, sondern ganz deutlich soziologisch zu nennen. Es handelt sich um einen Selbstschutz, der durch das Vordringen der Zivilisation in die Gebirgsgegenden ausgelöst wird. Durch den Bau von Straßen und die Bequemlichkeit des Reisens kommt die Berberin erstmals in direkten Kontakt mit der arabischen Kultur. Unverschleiertsein bedeutet für sie "rückständig", fremd im eigenen Lande, minderwertig zu sein. Im undurchschaubaren Panzer der Purdah kann sie - solange sie den Mund nicht aufmacht - als Araberin durchgehen und sich dementsprechend gleichwertig fühlen. Mit dem Schleier steigt sie eine Stufe höher auf der sozialen Leiter.
Dieser Versuch, teilzunehmen am Geschehen der modernen Großstädte, sich anzupassen an die überlegene Zivilisation, die den Islam verkündete, kann ganz generell als Motvation auch für andere Wandlungen vorliegen, etwa für die neue Islamisierung der Jugend, die meines Wissens nicht von "frommen" Regungen getragen ist, sondern (wie die eben erwähnte weibliche Kleidermode) Aufstieg und sozialen Rückhalt in der durch übergroße Kinderzahl immer schrecklicher gewordenen Situation in den Vorstädten bietet.
7. 10. 97